Das „Package“ der europäischen Patentgerichtsbarkeit besteht aus zwei Verordnungsentwürfen, der eine zur Sprachenfrage und der andere zum Einheitspatent („EU-Patent“), sowie dem Entwurf für ein Übereinkommen für ein einheitliches Patentgericht[1]. Nach erheblichem Widerstand aus Nutzerkreisen wegen zahlreicher Mängel von Abkommen und Patentverordnung und aufgrund fehlender Einigung über den Sitz des Gerichts wurde der von der polnischen Präsidentschaft überraschend für Ende Dezember geplante Unterschriftstermin abgesagt. Die dänische Präsidentschaft hat seitdem die Arbeiten an den genannten Texten noch nicht wieder aufgenommen, da man zunächst den Ausgang der französischen Präsidentschaftswahlen abwarten muss. Dänemark hat andererseits angekündigt, dass es einen Unterschriftstermin im Juni ins Auge fasst, obwohl die Kritikpunkte der Fachkreise bis dahin wohl kaum ausgeräumt sein werden.
Es ist daher zu hoffen, dass die Verabschiedung der Texte nochmals verschoben wird und stattdessen die allenthalben immer dringender geäußerten Bedenken der Industrie und praktisch aller Nutzerverbände ernst genommen werden. Es ist höchste Zeit, dass man sich mit den dringenden Wünschen derjenigen beschäftigt, für die das Jahrhundertwerk gedacht ist. In der „heißen Phase“ der Diskussion im November und Dezember konnte man in diversen Blogs viel darüber lesen, wie unterschiedliche Texte zwischen Rat, EU Parlament und Kommission hin und hergereicht wurden[2]. Resolutionen aus Industrie, Universitätskreisen, Richter- und Anwaltschaft wurden indessen als störend abgetan, weil es sich bei den Fachkreisen angeblich um Lobbyisten handele, denen man kein Gehör schenken brauche.
Zu dieser unbekümmerten Ablehnung jeder Befassung mit den Forderungen der Nutzerkreise kommt nun eine weitere, verfassungsrechtlich sehr bedenkliche Komponente hinzu, deren Relevanz dem Verfasser erst in jüngster Zeit offenbar geworden ist[3]. Es geht dabei um eine Absprachen zwischen EU-Parlament, Kommission und dem Rat der EU, wonach die Öffentlichkeit von den rechtlichen und tatsächlichen Bedenken zum Gesetzesvorhaben abgeschirmt werden sollte und die Verlautbarungen nach außen nicht einmal die halbe Wahrheit wiederzugeben scheinen.
Trotz der abwartenden Haltung der derzeitigen Präsidentschaft arbeitet eine Sachverständigengruppe daran, Prozessregeln zu entwerfen, deren Fehlen seit langem bemängelt und die von der EU-Kommission nicht mehr aufgegriffen wurden. Die Sachverständigengruppe arbeitet daher in einem rechtsfreien Raum, und sie stößt bei ihren Arbeiten auf zahlreiche Ungereimtheiten im Abkommen, die vernünftigen Prozessregeln im Wege stehen[4].
Alles sollte angeblich besser werden als bisher:
– Niedrigere Kosten für Patentanmeldungen und Gerichtsverfahren
– Bessere Effizienz der Gerichte durch einfache und faire Verfahrensregeln
– Zugang zu den Gerichten durch lokale Präsenz
– Vorhersehbarkeit der Rechtsprechung und Rechtssicherheit für die Parteien
– Höchste Qualität, Kompetenz und nachgewiesene Erfahrung der Richter in Patentstreitigkeiten[5]
Die folgenden Beispiele zeigen, dass keines dieser Versprechen Aussicht auf Erfüllung hat, da zu jedem Punkt entweder praxisferne und teure oder gar keine Regelungen angeboten werden.
Kosten des EU-Patents
Das Anmeldeverfahren bietet nach der Erteilung eines EP-Patents die Möglichkeit, statt der Benennung einzelner Länder ein Einheitspatent („EU-Patent“) für 25 Länder erteilt zu erhalten. Die Kosten stehen bis heute nicht fest, weder die Benennungsgebühren noch die Jahresgebühren. Für die überwiegende Mehrheit der Anmelder, die nur an einem Schutz für 3 bis 6 Länder interessiert sind, werden sich aber zweifellos sowohl die Anmeldekosten als auch die Jahresgebühren erhöhen, wenn sie ein EU-Patent wählen. Der polnische „Kompromiss“ zu den Jahresgebühren sieht dazu vor
- to allow to all Member States that they keep their current renewal fee income while at the same time ensuring that those Member States which currently have a low renewal fee income that they will significantly increase their renewal fee income
Versprochen war eine erhebliche Reduzierung der Kosten, um im Wettbewerb mit den USA und anderen Ländern bestehen zu können. Diese Vorteile kommen – wenn überhaupt – nur einem kleinen Teil der Anmelder zugute, die einen Schutz in 25 Ländern benötigen, wobei die günstigen Übersetzungsregeln erst nach langer Übergangszeit in Kraft treten. Für alle anderen werden sich die Kosten offensichtlich erhöhen . Die Nutzer benötigen konkrete, belastbare Zahlen, bevor das Übereinkommen als unterschriftsreif bezeichnet werden kann.
Dabei ist zu berücksichtigen,
- dass man bei EU-Patenten nicht mehr einzelne Länder fallen lassen kann, um Jahresgebühren zu sparen, und
- dass im Fall der Rechtsdurchsetzung eine Widerklage das Risiko der Vernichtung mit Wirkung für 25 Länder mit sich bringt.
Letzteres ist kein grundsätzliches Manko, denn im Gefolge einer großräumigeren Rechtsdurchsetzung müssen Patentinhaber regelmäßig auch mit einem größeren Verlustrisiko rechnen. Man kann aber auch nicht annehmen, dass ein Großteil der heutigen Anmelder von Bündelpatenten („EP-Patenten“), die sich bisher mit wenigen Benennungen begnügen, das EU-Patent als willkommene Alternative und Ersatz für das EP-Patent annehmen werden, wenn dies nicht ganz erhebliche weitere Vorteile bietet – die Kosten sind es jedenfalls nicht. Hinzukommt, dass es beim EU-Projekt bis heute nicht möglich ist, die Qualität der Richter, die Effizienz des Systems und dessen Kosten auch nur annähernd einzuschätzen, wie dies innerhalb einer etablierten Patentgerichtsbarkeit der Fall ist.
Zuständigkeit der Gerichte
Die Regeln über die Gerichtswahl sind unnötig kompliziert geworden, und mit jedem neuen Papier werden Zuständigkeiten von den lokalen Kammern in die Zentralkammer verlagert. Damit entfernt man sich immer mehr von dem Grundsatz einer dezentralen, von lokalen Kammern und Richtern getragenen Gerichtsbarkeit, die für die Nutzer leicht erreichbar ist und in der eigenen Verfahrenssprache verhandelt[6].
Ursprünglich galt die Klagemöglichkeit am Verletzungsort oder am Sitz des Beklagten. Die neuen Vorschläge sehen bei einem Beklagten mit Wohnsitz außerhalb der EU vor, dass die Klage auch bei der Zentralkammer eingereicht werden kann, wo allerdings nicht die lokale Verfahrenssprache, sondern die Sprache des Patents gilt. Wenn der Beklagte seinen Sitz in der EU hat und eine Verletzung im Gebiet von mehr als drei lokalen Kammern gegeben ist, kann der Beklagte verlangen, dass das gesamte Verfahren an die Zentralkammer abgegeben wird. Damit verliert die lokale Kammer die Zuständigkeit, und es ändert sich ggf. wiederum die Sprache [7].
Selbst wenn das Verfahren vor dem angerufenen Gericht verbleibt, soll „als Kompromiss“ die Regel gelten, dass auf Antrag des Beklagten die vom Kläger gewählte Sprache in die Sprache des Patents geändert wird, und zwar „aus Gründen der Einfachheit und Fairness“. Die ursprüngliche Regelung besagte, dass nur mit Zustimmung beider Parteien die Sprache geändert werden kann.
Durch derartige Regeln, die noch dazu wenig transparent sind[8], werden die Ziele des Abkommens drastisch verändert und vor allem kleine und mittlere Unternehmen ihrer lokalen Gerichtsbarkeit beraubt; das war niemals so gewollt. Eine Vorschrift, wonach ein mittelständisches Unternehmen bei einem massiv auf den Markt drängenden ausländischen Verletzer nach Einreichung einer Klage plötzlich gezwungen werden kann, zu einer ausländischen Zentralkammer zu reisen und den gesamten Prozessstoff in eine neue Verfahrenssprache zu übersetzen, weil dies für den Beklagten einfacher sein soll, stellt das Versprechen einer effizienten Verbesserung und Vorhersehbarkeit bei der Durchsetzung von Schutzrechten auf den Kopf [9]. Wer glaubt, man könne nach monatelangen Vorbereitungen einer Patentverletzungsklage mit einem Federstrich das Gericht samt Sprache ändern, ohne in tiefgreifender Weise die Rechtsdurchsetzung zu behindern, nämlich das Verfahren zu verzögern und zu verteuern, hat sich mit der Praxis von Patentklagen nie befasst.
Es ist unzutreffend, dass sich ein Beklagter nicht auch in einer fremden Sprache fair und effizient verteidigen kann. Dafür sorgen erfahrene Richter, auf deren Qualität durch die Benutzung ihrer Muttersprache es mehr ankommt als darauf, ob der Beklagte in der Originalsprache der mündlichen Verhandlung folgen kann, denn Übersetzungen von Schriftsätzen und auf Wunsch auch Dolmetscher erhält der Beklagte – und genauso ein ausländischer Kläger – von seinen Anwälten schon nach heutiger Praxis. Und warum soll ausgerechnet der inländische Kläger in die nachteiligere Rolle gedrängt werden, dem ja gerade die örtliche Nähe der Gerichte versprochen worden war, wenn der Beklagte offensichtlich in der Lage gewesen ist, den Vertrieb seiner Produkte im Inland zu organisieren?
Prozesskosten
Gerichtskosten sollen nach dem letzten polnischen Vorschlag zwischen 6.000 und 1 Mio € betragen, dabei soll jedem Fall ein „proportionaler Wert“ zugewiesen werden. Wonach sich dieser bestimmt (Umsatz? Gewinn? Schadensersatz? Lizenzgebühr?), ist nicht erwähnt. Das derzeit tätige Sachverständigenkomitee, das an den Verfahrensregeln arbeitet, beschäftigt sich nicht mit Kostenfragen – niemand tut es. Ein Gerichtsabkommen ohne eine Regelung der Kosten kann aber nicht unterschriftsreif genannt werden, wenn niedrigere Kosten und Vorhersehbarkeit versprochen werden.
Im Vergleich mit der deutschen Praxis lassen sich erhebliche Erhöhungen voraussehen, wenn sich das Gerichtssystem selbst tragen soll. Das deutsche Trennungsprinzip steht unter heftigem Beschuss, obwohl das Abkommen eine faire Optionslösung zwischen den verschiedenen Möglichkeiten der Prozessführung enthält. In Deutschland werden bei 100 Verletzungsverfahren zwischen 25 und 30 Nichtigkeitsverfahren eingereicht, in Ländern mit Kombinationssystem sind es 95%. Wird das Trennungsprinzip abgeschafft oder verschiebt sich die lokale Zuständigkeit immer mehr zugunsten der Zentralkammer, die das Kombinationssystem praktizieren wird, so wirkt sich dies auf die Effizienz der Gerichte, die Länge der Verfahren und damit die Kosten aus.
Auch eine Erhöhung der Kosten der Verletzungsverfahren wäre die Folge. Wählen immer mehr lokale Kammern das Kombinationssystem, bei dem Verletzungsklage und Nichtigkeitsklage zusammen verhandelt werden, wird für eine mündliche Verhandlung ein ganzer Tag erforderlich gegenüber der heutigen deutschen Praxis, bei der bisher ca. vier Fälle pro Tag für reine Verletzungsverfahren verhandelt werden können.
Wenn man diese erhöhten Kosten – jedenfalls für EU-Patente – in Kauf nehmen will, dann muss man dies offen aussprechen. Das Kombinationssystem wird für technisch schwierige internationale Fälle, die sonst in mehreren Ländern parallel laufen würden, eine willkommene, weil zentralisierte und unmittelbare Klärung der Rechtsfragen bieten, besonders wenn dort umfangreiche Sachverständigen-gutachten erforderlich werden, die man sonst Land für Land in verschiedenen Sprachen einholen müsste. Für diese Fälle wird sich eine erhebliche Erleichterung und Kosteneinsparung ergeben. Für die Vielzahl der Verletzungsfälle – nicht nur in Deutschland – ergeben sich daraus aber erhebliche Mehrkosten und Verzögerungen zu Lasten einer raschen Rechtsdurchsetzung einfach gelagerter Fälle[10], denn ein Kombinationsverfahren lädt den Beklagten geradezu zu einer Widerklage ein. Eine Vervierfachung der Sitzungstage der deutschen Patentstreitkammern ist personell und logistisch kaum vorstellbar, und auf keinen Fall kann man annehmen, dass man diese zum selben Preis bekommt wie heute.
Auch hieran zeigt sich, dass eine fehlende Differenzierung zwischen Patentinhabern den wirtschaftlichen Interessen eines Großteils der Anmelder, und zwar gerade der KMUs, konträr widerspricht. Aufgrund der vorgeschlagenen Regeln können sich im Vergleich zur deutschen Praxis eine Verdreifachung der Nichtigkeitsklagen und eine Vervierfachung des Zeitaufwands für Verletzungsfälle ergeben. Das mag für EU-Patente hinnehmbar sein, die eines Schutzes in 25 und mehr Ländern bedürfen. Solche Kostenerhöhungen aber auch den KMUs für EP-Patente zuzumuten, wäre eine der gravierenden Fehlentscheidungen für das neue Gerichtssystem. Die versprochenen erheblichen Kosteneinsparungen durch die Vermeidung von Parallelprozessen[11] werden sich nämlich für die große Mehrheit der Parteien, und hier wiederum für KMUs, gerade nicht erfüllen. Es gibt im Durchschnitt bei den Klagen in Deutschland nur 5-8% Parallelverfahren in anderen EU-Ländern, nicht 20%, wie in einer Studie behauptet wird, und es sind in der großen Mehrheit gerade nicht KMUs, die diese Parallelverfahren führen und hier profitieren könnten.
Die Kosten werden sich daher nach ersten Schätzungen gegenüber einem deutschen Verfahren, das man in vielen Studien als „benchmark“ nimmt, mindestens verdreifachen. Dies mag für einige Jurisdiktionen nicht erschreckend sein, für KMUs in Deutschland ist aber damit die Risikoschwelle überschritten, die man sich häufig nicht mehr leisten könnte. Hinzukommen die Unsicherheiten über die Berechnung von Streitwerten und Gerichtskosten, erhebliche Übersetzungskosten[12] durch willkürliche Sprachen- und Kammerwechsel usw. Von einer Kostenminderung kann nach allgemeiner Auffassung keine Rede sein[13], und die Beispiele zeigen, dass eine ersatzlose Abschaffung der parallelen nationalen Gerichtssysteme nicht nur zu einem Kollaps der Rechtsgewährung, sondern für KMUs faktisch zu einem Entzug des gesetzlichen Richters führt.
Kostenerstattung der unterlegenen Partei
Es ist lange übersehen worden, dass die Höhe der Gerichtskosten, die ja bisher ebenfalls nicht einmal im Ansatz geregelt sind, keineswegs das Risiko eines Gerichtsverfahrens bereits abschätzbar machen, wenn eine Regel über die Kostentragung fehlt. Der Vorschlag im Abkommen dazu ist aber noch unpräziser als der zu den Gerichtskosten, und es ist verwunderlich, wenn in einer Presserklärung der polnischen Präsidentschaft Anfang Dezember 2011 behauptet wurde, man habe sich über alles geeinigt
….the fees, the language of the Court, and the transitional period as well as the Revision clause. So, basically almost everything has been accepted with one exception the seat of the Central Court…[14]
In dem Vorschlag war nämlich vorgesehen, dass die unterlegene Partei die Verfahrenskosten „bis zu einem Höchstbetrag“ zu tragen hat. Weder findet sich etwas darüber, wie hoch der Betrag ist, welche Kosten erstattbar, noch wie die Beträge zu berechnen sind. Da sich hier die Praxis in den Mitgliedsländern extrem unterscheidet, hätte dringend Bedarf bestanden, sich zumindest über das Prinzip zu einigen, was wiederholt im Sachverständigenausschuss verlangt worden war.
Sitz der Gerichtsinstanzen
Entgegen dringender Empfehlungen der Sachverständigen und der Industrie können in jedem Mitgliedsland eigene lokale Kammern errichtet werden, auch wenn 14 Länder weniger als zehn Patentverfahren pro Jahr vorweisen können, darunter neun kein einziges in den letzten Jahren. Dies führt zu einer erheblichen Verwässerung der Qualität, Effizienz und Vorhersehbarkeit, die das Abkommen sämtlich als Bedingungen fordert. Auch die Empfehlung des Verfassers, mit einem allmählichen Aufbau einiger weniger lokaler Kammern zu beginnen, was viele der hier angesprochenen Probleme fehlender Kompetenz und Erfahrung und einer nicht ausreichenden Testphase lösen würde, hat keinen Eingang in die Texte gefunden und wurde mit der Industrie nicht einmal erörtert.
Bisher fehlt es auch an einer Übereinstimmung über den Sitz der Zentralkammer. Dazu findet man im Papier der polnischen Präsidentschaft vom 6. Dezember 2011 einen „Kompromissvorschlag“:
– Zentralkammer erster Instanz Paris,
– Schiedsgerichtsinstanzen Ljubljana und Lissabon,
– Richterakademie Budapest, und
– Berufungsinstanz Luxemburg
Man kann sicherlich nicht alle diese Städte als erfahrene nationale Patentstreitgerichte bezeichnen. Über den Sitz der Zentralkammer erster Instanz wird noch zwischen Deutschland, Frankreich und England (UK) verhandelt. Der Widerstand gegen München als Sitz der Zentralkammer ist, vor allem aufgrund der örtlichen Nähe des EPA, in vielen Ländern erheblich. Würde man von deutscher Seite Hamburg als Zentralkammer vorschlagen und es bei München mit einer lokalen Kammer belassen, wäre dem Vernehmen nach mit einer Unterstützung durch skandinavische und osteuropäische Länder zu rechnen.
Wahl der Richter
Obwohl „höchste Qualität und Erfahrung im Patentrecht“ für die Richter im Abkommensentwurf festgeschrieben sind, wird dieses Erfordernis aus verschiedenen Gründen nicht eingehalten. Ziel war es ursprünglich, gerade keinen Länderproporz einzuführen, wonach jedes Land einen Richter – oder die gleiche Anzahl von Richtern – benennen könnte. Deshalb sollten international erfahrene Patentpraktiker zu einer Listenaufstellung herangezogen werden. Entscheiden wird aber nun ein Verwaltungsrat aus Regierungsvertretern, der bei der Ernennung auf eine breite geographische Basis achten und einstimmig entscheiden soll. Dies wird bedeuten, dass ein einzelner Vertreter gegen die Streichung eines Richters aus seinem Land stimmen kann (und auch wird) und im Ergebnis daher die Richter zur Hälfte nicht aus Patentländern kommen werden. Auch dies wäre durch einen allmählichen Gerichtsaufbau und die Einbindung unerfahrener Richter in ein längerfristiges Ausbildungsprogramm zu lösen. Es ist daher für die verschiedenen Sitzstädte völlig offen, wie sich die Besetzung der lokalen und übrigen Kammern darstellen wird. Eine Garantie für erfahrene Richter gibt es also ebenfalls nicht[15].
Parallele Option für EP-Patente und Übergangsfristen
Ein wichtiger Teil der Industrie benötigt den Schutz des EU-Patents, und sie erwartet sich davon höchste Qualität und Rechtssicherheit, die sich an bestehenden Patentsystemen messen lassen müssen. Daher stellt es bereits einen relevanten Systemfehler dar, die Anmelder von EP-Patenten, die nur in wenigen Ländern Schutz benötigen, in dasselbe Gerichtssystem wie die EU-Patente hineinzuzwingen, bevor die neuen Gerichte Gelegenheit bekommen haben, sich überhaupt im Wettbewerb mit den nationalen Gerichten zu beweisen. Anders ist man sowohl bei der Errichtung des EPA als auch beim HABM verfahren, die sich im Wettbewerb mit den nationalen Ämtern behaupten mussten und auch behauptet haben.
Der Verfasser hat daher seit vielen Jahren[16] für die Inhaber von EP-Patenten eine Wahlmöglichkeit zwischen den nationalen Gerichten und den EU-Gerichten gefordert[17]. Die unterschiedlichen Bedürfnisse und finanziellen Mittel der Nutzer ebenso wie die Notwendigkeit von Qualitätswettbewerb zwischen den Gerichten machen dies unerlässlich.
Eine sehr gewichtige Stimme aus der deutschen Industrie hat diese Notwendigkeit sehr deutlich formuliert:
Auch die Gerichte brauchen Wettbewerb… Wir, die Industrie, wollen das Gemeinschaftspatent ebenso wie eine europäische Patentgerichtsbarkeit neben der nationalen. Aber wir wollen sie nicht um jeden Preis[18].
Es wäre ein erhebliches Risiko, die nationalen Gerichte zu schließen, bevor das neue System auf Effizienz, Qualität und Vorhersehbarkeit in allen seinen rechtlichen und administrativen Funktionen ernsthaft getestet worden ist[19]. Man nimmt andernfalls sehenden Auges in Kauf, dass ein allgemein als lückenhaft erkanntes System ohne Rückkehrmöglichkeit in Kraft tritt und sämtliche erfahrenen Patentgerichte in Europa von heute auf morgen geschlossen werden. Die negativen wirtschaftlichen Auswirkungen einer politischen Fehlentscheidung für einen Wirtschaftsraum, in dem mittlere Unternehmen ebenso wie die Großindustrie auf den Schutz von Forschungs- und Entwicklungsergebnissen im internationalen Wettbewerb entscheidend angewiesen sind, werden offenbar in Kauf genommen. Das Projekt ist zu einem Selbstläufer geworden, das die Politiker anscheinend nicht mehr anhalten möchten, und zwar nicht, weil sie von seiner Qualität überzeugt sind, sondern weil sie befürchten, der Enthusiasmus der Nutzer werde sonst erlahmen; dabei werden diese nicht einmal mehr gefragt.
Wenig sinnvoll sind die seit Anbeginn kritisierten Übergangsfristen, die zuerst 5 Jahre und nun 7 Jahre betragen sollen. Bei derart nutzerfeindlichen Übergangsfristen werden voraussichtlich über 90% der Inhaber von EP-Patenten von der opt-out-Möglichkeit Gebrauch machen. Gleichzeitig wird dies dazu führen, dass potentielle EU-Patentanmelder gar nicht erst an eine Anmeldung von EU-Patenten denken werden, weil man dies erst recht als unentrinnbare, und noch dazu unberechtigt teure Falle begreift. Bei einer solchen Abwanderung werden die neuen Gerichte zunächst einmal völlig ohne Arbeit sein, so dass gerade mit der kurzen Übergangszeit ein weiterer ernsthafter Gefahrenpunkt für den Misserfolg des gesamten Systems geschaffen wird. Sieben Jahre reichen nicht einmal aus, um die EU-Gerichte mit einer einzigen Rechtsfrage zu testen. Nach Einführung des EPÜ hat es in Deutschland genau 10 Jahre gedauert, bis der erste Verletzungsfall zu den Gerichten kam und schließlich vom BGH entschieden wurde.
Wirtschaftlich besonders schädlich wäre es dann, wenn sich wegen der zu kurzen Übergangsfrist Anmelder aus Misstrauen vor dem neuen System in Scharen wieder für nationale Patente entscheiden würden, wie dies viele Firmen bereits jetzt parallel zu den EP-Patenten begonnen haben zu planen.
Fehlende Regeln
Seit Jahren bemängelt wurde das Fehlen von Regeln zu den Schutzzertifikaten[20], sowie den Kündigungs- und Auflösungsregeln[21]. Dass ein Abkommen unkündbar wäre, das sich schon bald als eine europaweite Fortschrittsbremse erweisen könnte, ist kaum hinnehmbar.
Der EuGH als dritte Instanz und Art. 6 -8 der Patentverordnung
Die EuGH-Entscheidung vom 8. März 2011, mit der die Kompatibilität des Abkommensentwurfs mit den EU-Verträgen verneint wurde, führte zu einer dramatischen Wende der Arbeiten am Gerichtssystem. Wohl weil man sich vom höchsten Gericht gescholten fühlte, überschlugen sich fortan Kommission, Rat und europäisches Parlament in einer Art vorauseilendem Gehorsam[22] und verloren das Ziel des Projekts völlig aus den Augen. Statt die EuGH-Entscheidung genau zu prüfen und dann alles für ein qualitativ hochstehendes und effizientes Patentgerichtssystem zu tun, waren einige der Meinung, man müsse nun das Extrem verwirklichen. Durch Einfügung eines erheblichen Teils des materiellen Patentrechts in den Art. 6 – 8 der Verordnung zum EU-Patent und Androhung von Sanktionen gegenüber Richtern und Mitgliedsländern im Abkommen haben sie die Tür für eine unvorhersehbare Zahl von Vorlageverfahren zum EuGH geöffnet[23].
Wohl alle Praktiker, Richter, Anwälte und die Industrie sind überzeugt, dass die Entscheidung, im Patentrecht nicht spezialisierter Richter mit der Überprüfung von wesentlichen materiellen und prozessualen Patentrechtsfragen zu betrauen, dem europäischen Patentrecht Schaden zufügen wird: wegen verlängerter Prozessdauer, aus Kostengründen und aus Gründen der Rechtsauslegung durch Nichtfachleute. Die Beurteilung patentrechtlicher Fragen auf der Richterbank erfordert jahrelange patentrechtliche Erfahrung und ein Verständnis von zum großen Teil hochtechnischer Sachverhalte. Derartige Kenntnisse und Fähigkeiten sind selbst dann erforderlich, wenn das Gericht einen Sachverständigen hinzuzieht, der instruiert und dessen Gutachten vom Gericht auch verstanden werden muss.
Den Nutzern war zugesagt worden, dass es über das bestehende EU-Recht hinaus keine Ausdehnung der Vorabentscheidungskompetenz des EuGH auf weitere Rechtsfragen geben werde. Wenn diese Bedingung nicht eingehalten wird, verliert das gesamte Projekt seinen Sinn, es ist der gravierendste Fehler des Patentpakets[24]. Abgesehen davon, dass die Generalanwältin im EuGH-Verfahren gleich mehrere Wege aufgezeigt hatte, wie man eine vernünftige rechtliche Regelung entwickeln könnte, ist für die meisten Juristen nicht erklärlich, wie aus Artikel 118 AEUV überzeugend abgeleitet werden kann, dass das materielle, bisher nationale Patentrecht zwingend in Gemeinschaftsrecht umgewandelt werden müsse, wenn andererseits das gesamte EPÜ außerhalb des Gemeinschaftsrechts verbleibt.
Diskussionswürdig ist allerdings auch, wie es zu der Abstimmung im europäischen Parlament über die Artikel 6 – 8 in der Patentverordnung gekommen ist. Bei der während der polnischen Präsidentschaft über Monate geführten Debatte war in Brüssel verschiedentlich auf ein Gutachten des Juristischen Dienstes der Kommission verwiesen worden, das angeblich unwiderlegbar zu dem Schluss gekommen sei, dass die Artikel beizubehalten seien. Der Verfasser hatte mehrmals um eine Zusendung dieses Gutachtens gebeten, ohne dass dies jemals eintraf oder recherchierbar war. Auch den Abgeordneten des Rechtsausschusses des europäischen Parlaments war offensichtlich von der Existenz dieses Gutachtens berichtet worden, denn darauf wurde in der entscheidenden parlamentarischen Debatte Bezug genommen. Dort sah sich die schwedische Abgeordnete Cecilia Wikström, die unter Hinweis auf die zahlreichen Eingaben aus Wissenschaft und Fachkreisen für die Streichung der Art. 6-8 der Verordnung plädierte, einer Mehrheit ihrer Ausschussmitglieder gegenüber, die sich auf dieses Gutachten beriefen. Sie bemerkte dazu in der Debatte des Rechtsausschusses vom 21.11. 2011:
The only argument I have heard against this proposal[25] is that some lawyers, notably in the Commission’s legal service, are of the opinion that these articles need to be included in order to allow a legal basis under Article 118 TFEU. Although I have asked for a clarification on why this would be the case, they have not been able to provide me an answer until now. And they still haven’t. I am still waiting for it. I find it remarkable and deeply unsatisfactory.[26]
Erst nach dieser Abstimmung hieß es dann, wovon offensichtlich auch Vertreter der Kommission überrascht wurden, die für die Streichung der Art. 6-8 eingetreten waren, dass es gar kein schriftliches Gutachten gebe, sondern nur eine mündliche Äußerung eines Mitglieds des Juristischen Dienstes bei einer internen Diskussion, und diese Äußerung wurde monatelang mit der Bezeichnung „Gutachten“ kolportiert.
Demnach hat der Rechtsausschuss des europäischen Parlaments abgestimmt in der falschen Annahme, dass es eine eindeutig überzeugende Rechtsmeinung gab, der nach ihrer Überzeugung sogar ein höherer Stellenwert beizumessen war als z.B. dem wissenschaftlichen Gutachten eines der besten Patentrechtler Deutschlands, Professor Kraßer, das dem Rechtsausschuss schriftlich vorlag. Mit dieser fragwürdigen Behauptung sind Parlament und Öffentlichkeit über Monate getäuscht und hingehalten worden. Der Juristische Dienst hat damit Autorität für sich in Anspruch genommen hat, die er gar nicht besaß und die offensichtlich kausal für das Abstimmungsergebnis war. Denn die betreffenden Abgeordneten hätten angesichts der Vielzahl entgegenstehender Voten kaum für die Beibehaltung der Art. 6 bis 8 stimmen können, wenn sie gewusst hätten, dass es gar kein Gutachten des Juristischen Dienstes gab. Jedenfalls hat der Berichterstatter für die Patentverordnung in der Debatte selbst eingeräumt, dass er nicht mal Jurist sei und sich nur eine Meinung durch Sachverständige bilden könne[27].
Es gibt aber noch ein zweites Gutachten, das ebenfalls einige Merkwürdigkeiten aufweist. Dieses Gutachten stammt vom Juristischen Dienst des Rates[28] und besteht in seiner veröffentlichten Fassung aus ca. 5 Seiten mit einer Fußnote:
This document contains legal advice protected under Art. 4(2) of Regulation (EC) 1049/2001… and not released by the Council …to the public
Auf S. 6 findet sich dann der Hinweis
Deleted from this point until the end of the Document (page 14)
Mehr als acht Seiten fehlen daher in der veröffentlichten Fassung. Solche juristische Geheimnistuerei im Zusammenhang mit einem Gesetzgebungsverfahren von europaweiter Bedeutung ist schon an sich merkwürdig, insbesondere wenn es um zentrale Fragen geht, zu denen eine Reihe wissenschaftlicher Gutachten vorlagen[29].
Weil sich ein Betroffener nicht mit dem bloßen Hinweis der Geheimhaltung auf dem Dokument zufrieden gab, stellte er einen offiziellen Antrag auf Herausgabe, die dieses Mal vom Generalsekretariat des Rates schriftlich abgelehnt wurde[30] mit der kaum glaublichen Begründung, das Dokument betreffe politisch und rechtlich besonders komplexe und sensitive Fragen in einem laufenden Entscheidungsprozess, der sehr kontrovers diskutiert werde. Die Begründung fährt fort:
… public release of [the]document would risk to further complicate the ongoing complex and sensitive decision-making process described above thus compromising the Council’s capacity to find agreement on the dossier.
Finally, the described negative effects of divulgation to the public could equally affect the ratification process in the Member States willing to participate in the envisaged agreement. This would ultimately delay or put into question the entry into force of the envisaged international agreement.. (Zitat aus der Originalbegründung, Unterstreichung hinzugefügt)
Mit anderen Worten, dem Rat sind derart schwerwiegende Gründe bekannt, die gegen die Ratifizierung des Abkommens sprechen, dass diese zu weiteren politischen und rechtlichen Diskussionen führen und sogar das Inkrafttreten des Übereinkommens in Frage stellen könnten(!). Daher müsse man sie der Öffentlichkeit und damit den Nutzern (und den nationalen Parlamenten!) auf jeden Fall vorenthalten, weil diese dadurch zur Ablehnung des Abkommens kommen könnten.
Um diese wichtigen Geheimnisse zu schützen, haben Vertreter des Rechtsausschusses des EU-Parlaments nach Beendigung der Ausschussdebatte vom 21.11.2011 an den folgenden Tagen bis zum 5. Dezember 2011 die weitere Beratung des Gesetzeswerks gleich hinter verschlossene Türen verlegt und sich dort mit Vertretern des Rates und Vertretern der Kommission getroffen, um die Texte „zu Ende zu verhandeln“ [31]. Man darf wohl Zweifel anmelden, ob diese Umgehung der Gewaltenteilung zwischen Legislative und Exekutive allgemeinen Beifall findet, wenn sie vor allem dem Zweck dient, lästige Diskussionen zu vermeiden und der Öffentlichkeit Informationen vorzuenthalten. Dass es gewichtige Gründe gegen die derzeitigen Vorschläge gibt, weiß inzwischen auch die weite Mehrheit der Nutzer, dass sie aber auch dem Rat bekannt sind und seine Mitglieder trotzdem alles tun, um diese gravierenden Fehler zu leugnen und der Öffentlichkeit das Gegenteil zu verkünden, ist bisher nicht allgemein bekannt geworden[32].
Zusammenfassung
Es konnten hier nur einige der besonders gravierenden Unterlassungen und sachlichen Fehler aufgezeigt werden. Es verbleiben noch zahlreiche offene Fragen, die erst deutlich werden, wenn klar ist, welcher Text als ernsthafte Diskussionsbasis gelten kann, einen solchen gibt es bisher nicht. Die diversen Vorschläge des „Patentpakets“ zeichnen sich durch unpräzise Regelungen, bewusste Lücken und für die Praxis völlig unverständliche Kompromisse aus, die insbesondere kleine und mittlere Unternehmen erheblich schlechter stellen.
Wenn man die zukünftigen Ratifizierungsverfahren nicht gefährden will, dann darf man nicht die bestehende Gerichtsbarkeit mit einem Federstrich abschaffen. Wenn sich die europäischen Ämter EPA und HABM im Wettbewerb mit den nationalen Ämtern nie erwartete Erfolge erarbeitet haben, warum traut man dies nicht einer europäischen Gerichtsbarkeit zu, wenn sie sich im Wettbewerb mit nationalen Gerichten entwickeln muss? Es gibt keine andere Lösung als den Nutzern eine Wahl zwischen den Gerichtssystemen anbieten. Wenn das Ziel der bestmöglichen Qualität ernst gemeint ist, müssen allgemein akzeptierte Lösungen erarbeitet werden, an denen Fachleute mitwirken, deren Vorschläge bisher nicht willkommen waren.
Dazu müssen sich wohl manche von der Vorstellung verabschieden, man könne ein Vorhaben von einer solchen wirtschaftlichen Bedeutung ohne die Zustimmung der unmittelbar Beteiligten – oder an diesen vorbei – umsetzen, wenn man nur lange genug die wahren Fakten leugnet. Industrievertreter hatten wiederholt unter Hinweis auf entsprechende Zusagen der Politik[33] gemahnt, dass die Industrie ohne einen „sichtbaren Mehrwert“ kein Interesse an einem neuen Patentsystem habe[34]. Es ist schwer vorstellbar, dass man sich nun mit einem offensichtlichen Minderwert zufrieden gibt, selbst wenn es die geschilderten Vorgänge im Gesetzgebungsverfahren nicht gegeben hätte.
Daher ist es an der Zeit, das Gesamtpaket auf neue Füße zu stellen und die Diskussionen mit der üblichen Transparenz und Offenheit zu führen. Es ist schwer vorstellbar, dass die Mitgliedsstaaten und die amtierende Europäische Präsidentschaft ein Interesse daran haben, „trotz allem“ die vorliegenden Papiere zur Unterzeichnung zu bringen, die unter Missachtung von elementaren demokratischen Spielregeln zustande gekommen sind und dann bei der Ratifizierung zu Verfassungsklagen führen.
Nun mag man einwenden, dass die verschwiegenen Defizite ja keine wirklichen Geheimnisse darstellten, denn auf sie wurde von vielen Seiten immer wieder hingewiesen. Das Ziel muss aber sein, diese Defizite zu beseitigen statt sie zu leugnen, den Zeitdruck von den Verhandlungen zu nehmen und politische Beweggründe ein für alle Mal gegenüber sachbezogenen Lösungen hintan zu stellen. Es muss auf die bestmögliche Lösung hingearbeitet werden, auf ein System aus einem Guss, nicht auf einen Text mit der größtmöglichen Anzahl von Kompromissen; damit wäre das EPÜ niemals ein Erfolg geworden.
Wenn das Projekt erfolgreich und allgemein akzeptiert werden soll, dann muss man auch in Fachkreisen anerkennen, dass es zwei große Nutzergruppen gibt, deren Interessen nicht immer deckungsgleich sind, die aber beide ein funktionierendes Patent(gerichts)system benötigen:
– Unternehmen und Einzelerfinder, die am liebsten das Risiko neuer Strukturen gar nicht eingehen würden, und alles beim jetzigen Zustand belassen möchten, so etwa die meisten KMUs, für die ein „anderes“ Gerichtssystem nicht mehr bezahlbar wäre. Sie benötigen möglichst preiswerten Schutz in wenigen Ländern verbunden mit einer effizienten und vorhersehbaren Gerichtsbarkeit, ortsnah und ihrer Sprache.
– International tätige Konzerne, deren Produkte in jedem Land Schutz benötigen und die seit langem auf einen großen einheitlichen Wirtschaftsraum warten, wo die Patenterlangung vereinfacht wird und die Verteidigung von Schutzrechten effizient und qualitativ hochstehend ist. Hier mögen Ortsnähe und die Sprache weniger von Bedeutung sein als die Vermeidung von Parallelverfahren.
Beide Gruppen würden bei einer Koexistenz des neuen und des bestehenden Gerichtssystems ihre Idealbedingungen vorfinden, die sich gegenseitig anspornen und befruchten können[35]. Mitglieder der einen Gruppe werden dann je nach Konstellation auch die Institutionen der anderen Gruppe nutzen, so dass es keineswegs eine strikte Trennung geben kann oder soll. Weder werden die KMUs durch die Errichtung einer europaweiten Gerichtsbarkeit behindert oder benachteiligt, noch umgekehrt ein Unternehmen, das häufig Parallelprozesse in mehreren Ländern führt, durch das Weiterbestehen nationaler Gerichtsstrukturen.
Daher sollte alles getan werden, damit der Aufbau der neuen Strukturen nicht weiter verzögert wird oder erneut scheitert. Es braucht dafür keine komplizierten Übergangs- oder zeitlich begrenzte opt-out-Regeln, wenn die bestehenden Gerichte weiter zur Verfügung stehen. Auch die Sprachregeln verlieren ihren Schrecken, denn die, die zur Einheitssprache tendieren, können dies in Absprache mit Gericht und der anderen Seite praktizieren.
Was alle Interessierten darüber hinaus wünschen werden – aus Kosten und Qualitätsgründen -, ist ein allmählicher Aufbau der neuen Gerichtsstrukturen und keine artifizielle lokale Gerichtspräsenz: nur dort wo Gerichte gebraucht werden, sollten sie auch entstehen[36].
[1] Von jedem dieser Entwürfe existieren mehrere Versionen, deren Relevanz von „außen“ nicht beurteilt werden kann, weil dem ganzen Projekt in den letzten Monaten eine völlig ungewöhnliche Geheimhaltung zuteil geworden ist, auf die noch einzugehen ist.
[2] Vgl. http://ipkitten.blogspot.de/2011/12/good-morning-from-amerikat-monday-is.html ; http://www.managingip.com/Article/2944672/Managing-Patents-Archive/Ministers-close-to-EU-patent-deal.html
[3] Verwiesen wird hier auch auf den Aufsatz von Stjerna, Die Beratungen zum „Einheitspatent“ und der zugehörigen Gerichtsbarkeit – Auf dem Weg ins Desaster, Mitt. 2012, 54ff., der dem Verfasser erst nach Fertigstellung seines eigenen Beitrags bekannt geworden ist. Überschneidungen waren daher nicht mehr zu vermeiden; dazu auch der Blog-Beitrag von Horns vom 18.12. 2011, http://blog.ksnh.eu/en/2011/12/18/eu-council-something-to-hide-might-legal-opinion-tun-out-to-be-a-bombshell/
[4] Ein achter Entwurf mit 511 Paragrafen liegt vor, der gerade zur Kommentierung versandt worden ist
[5] Diese Kriterien finden sich in zahlreichen Papieren aus Brüssel, u.a. in der umfänglichen Mitteilung der Kommission st8302/07 vom 4.4. 2007
[6] Vgl. diese Forderung auch in der Stellungnahme deutscher Patentrichter vom September 2008
[7] Die Verweisung an die Zentralkammer erfolgt auch, wenn die Parteien sich über eine andere Sprache einigen, aber das Gericht nicht zustimmt.
[8] Vgl. das polnische Papier st16741/11 vom 11.11. 2011 Art. 15-15a
[9] Daraus ergibt sich auch eine neue Möglichkeit des forum shopping: Ein Verletzer wird gleich in drei Ländern verletzen, damit er den deutschen Kammern „entkommt“ und sich in Ruhe auf dem Markt einrichten kann.
[10] Darauf weist auch Kley in einem sehr lesenswerten Beitrag hin, in: 50 Jahre BPatG, Tagungsband, S. 27: „[Das Trennungsprinzip] ist vielleicht nicht für die Gewinn- und Verlustrechnung angelsächsischer Großkanzleien von Vorteil, wohl aber für unsere Wirtschaft“.
[11] Vgl. die Presseerklärung der polnischen Präsidentschaft vom 5.12. 2011 http://ipkitten.blogspot.de/2011/12/good-morning-from-amerikat-monday-is.html zitiert von IPKat vom selben Tag, in der gerade für KMUs eine erhebliche Kostenersparnis versprochen wurde, ohne diese zu erläutern.
[12] Das Abkommen sieht u.a. teure Übersetzungsregeln für sämtliche Gerichtsunterlagen zugunsten des Beklagten vor, auch ohne Gerichts- und Sprachenwechsel.
[13] So ebenfalls der britische Industrieverband FPI vom 22.9.2011, der schwedische Industrieverband Svenskt Näringsliv vom 30.8. 2011, sowie das UK IPO Committee vom 14.6. 2011 . Sämtliche der auch im Folgenden zitierten Stellungnahmen aus der Industrie warnen vor erheblichen Kostennachteilen besonders für KMUs.
[14] http://video.consilium.europa.eu/webcast.aspx?ticket=775-979-10498 ; sowie Bericht IPKat vom 6.12.2011
[15] Zu den Richtern ohne höchste Qualität und Erfahrung im Patentrecht gehören auch diejenigen des EuGH in Vorlageverfahren; davor warnt auch die ICC in einer Eingabe an das EU Parlament vom 25.11. 2011
[16] Pagenberg, Colloque Strasbourg 16. Oktober 2008, A Pleading for parallel national litigation
[17] Im gleichen Sinn die „Stellungnahme deutscher Patentrichter“ vom September 2008
[18] So Kley a.a.O. S. 29.
[19] Ebenso der englische Industrieverband IP Federation (UK) vom 14.6. 2011, der schwedische Industrieverband, a.a.O., das UK IPO Committee a.a.O., FICPI vom 22.9.2011, CIPA vom 30.11. 2011
[20] Resolutionen der EPLAW a.a.O, UK IPO Committee a.a.O., CIPA a.a.O.
[21] Zuletzt bemängelt von UK IPO Committee, a.a.O., CCBE, a.a.O., EPLAW a.a.O., IP Federation a.a.O., CIPA a.a.O.
[22] Allein vier Artikel des Abkommens regeln die Haftung der Gerichte und der Mitgliedsländer – einschließlich Schadensersatz – wegen unterlassener Vorlage eines Falles zum EuGH.
[23] Es ist praxisfern zu hoffen, es werde schon „nicht so schlimm kommen“, denn eine Partei, die einen Verletzungsfall für die gesamte EU verloren hat, wird alles tun, um das Verfahren noch weitere zwei Jahre in der Schwebe zu halten; und Richter, die unter der Bedrohung mit Sanktionen stehen, werden wohl kaum einen Antrag auf Vorlage zum EuGH einfach negieren.
[24] Vgl. die Kritik der ICC a.a.O.; das Papier des schwedischen Industrieverbandes a.a.O., die Gutachten von Kraßer und Jacob, www.eplawpatentblog.com/eplaw/2011…/Opinion, sowie die Resolutionen der Anwaltsverbände wie EPLAW vom 27.9. 2011 und CCBE vom 12.12. 2011, CIPA vom 30.11. 2011.
[25] Art. 6 – 8 der VO zu streichen
[26] Vgl. die Wiedergabe der Debatte unter http://www.europarl.europa.eu/ep-live/en/committees/video?event=20111121-1500-COMMITTEE-JURI&category=COMMITTEE&format=wmv#, zit. bei IPKat vom 5.12. 2011
[27]MEP Rapkay am 21.11. 2011: You know I am something of a legal layman- I am happy to listen to legal experts… zitiert nach IPKat vom 5.12.2011: http://ipkitten.blogspot.de/2011/12/good-morning-from-amerikat-monday-is.html
[28] St15856/11 vom 21. Oktober 2011, teilweise (5 Seiten) veröffentlicht am 14.12. 2011)
[29] Prof. Rudolf Kraßer vom 1. September und 18. Oktober 2011 und Prof. Robin Jacob vom 2.11. 2011, sowie die Stimmen in Fußnote 19.
[30] Vgl. die Schilderung von Stjerna, Fußnote 5 oben a.a.O. S. 58, sowie Horns, oben Fußnote 5 a.a.O.
[31] Das Thema wurde ausdrücklich aus Geheimhaltungsgründen von der offiziellen Tagesordnung des Parlaments gestrichen, vgl. die Berichte von IPKat vom 5./6.12. 2011: http://ipkitten.blogspot.de/2011/12/good-morning-from-amerikat-monday-is.html , sowie MIPI: http://www.managingip.com/Article/2944672/Managing-Patents-Archive/Ministers-close-to-EU-patent-deal.html : Es wurde ein „Deal“ mit COREPER ausgehandelt
[32] So noch die Presseerklärungen der polnischne Präsidentschaft, vgl. den Bericht von IPKat vom 20.12. 2012: http://ipkitten.blogspot.de/2011/12/recap-update-unitary-patent-system-and.html, sowie die Presserklärung des Parlaments: http://www.europarl.europa.eu/news/en/pressroom/content/20111219IPR34540/html/EU-patent-gets-Legal-Affairs-Committee-green-light,
[33] Vgl. die damalige Justizministerin Zypries im Jahre 2007 auf der internationalen Patentkonferenz in München im Jahre 2007, die die deutsche Position so umschrieb, dass es keinen Kompromiss geben werde, „der nicht eine nachhaltige Verbesserung des status quo darstellt“, nachzulesen unter http://www.bpatg.de/bpatg/symposium/symposium.html
[34] Vgl. die strikt ablehnende Stellungnahme des schwedischen Industrieverbandes, a.a.O., mit Hinweis auf die Nachteile für KMUs; den Mehrwert hat auch Kley, a.a.O. S. 29 betont, der vor einer Politikwende warnte.
[35] Man sollte sogar eine Umfrage bei den Fachkreisen zu bestimmten Fragen erwägen, vgl. diese Forderung von FICPI in einer Eingabe an die Kommission vom 22.9.2011
[36] Vielleicht könnte man auch die Richter des EuGH fragen, ob sie überhaupt daran interessiert sind, eine Vielzahl privater Patentstreitigkeiten zu entscheiden, für die ihr Gericht nicht geschaffen wurde und die seine Kapazität nicht nur verfahrensmäßig endgültig sprengen würden.